Die deutsche Politik steht vor einer historischen Zäsur: In mehreren aktuellen Sonntagsfragen liegt die AfD erstmals vor der CDU/CSU – ein Phänomen, das vor fünf Jahren noch undenkbar war. Die Umfragen von Ipsos, Forsa und infratest dimap aus dem Sommer und Herbst 2025 zeigen keine leichten Schwankungen, sondern einen strukturellen Machtwechsel. Die Wahl am 23. Februar 2025 wird nicht nur über die nächste Regierung entscheiden – sie wird über die Zukunft des deutschen Parteiensystems bestimmen.
Die Zahlen sprechen eine klare Sprache
Die Ipsos-Umfrage vom 4. bis 5. Juli 2025, veröffentlicht am 10. Juli, ergab: 26 Prozent der Wahlberechtigten würden die CDU/CSU wählen, die AfD lag mit 24 Prozent nur zwei Punkte dahinter. Die SPD sank auf 15 Prozent, Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke stabilisierten sich jeweils bei 12 Prozent. Das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) blieb mit 4 Prozent unter der Fünf-Prozent-Hürde, ebenso die FDP mit 3 Prozent. Das ist kein Zufall – es ist ein Trend.
Doch die Forsa-Umfrage für RTL und n-tv, durchgeführt zwischen dem 11. und 17. November 2025, verschärft das Bild: Die AfD liegt nun mit 26 Prozent klar vor der CDU/CSU (25 Prozent). Die SPD bleibt bei 14 Prozent, die Grünen bei 12, die Linke bei 11. Die sonstigen Parteien sammeln 9 Prozent – ein Hinweis darauf, dass die politische Landschaft immer fragmentierter wird. Die FDP bleibt mit 3 Prozent außen vor. Diese Zahlen sind kein Einzelfall – sie zeigen, wie sich das Vertrauen in die etablierten Parteien auflöst.
Warum die INSA-Daten so anders aussehen
Da ist noch die INSA-Umfrage vom November 2024 – ein Gegenpol. Damals lag die CDU/CSU mit 32 Prozent deutlich vorne, die AfD kam auf nur 5 Prozent. Doch diese Zahlen stammen aus einer anderen Zeit. Sie spiegeln die Stimmung wider, bevor die Regierungskrise eskalierte. Der Unterschied ist kein Messfehler – er ist ein Zeichen. Die Wähler haben sich seitdem entschieden. Die Vertrauensabstimmung von Bundeskanzler Olaf Scholz am 11. Dezember 2024 war der Wendepunkt. Als der Bundestag ihm das Vertrauen entzog, brach ein Teil der Wählerschaft endgültig mit der Großen Koalition. Die AfD profitierte nicht nur von der Unzufriedenheit – sie wurde zur ersten Adresse für Protestwähler.
Die Vertrauenskrise und ihre Folgen
Olaf Scholz’ gescheiterte Vertrauensfrage war kein technischer Fehler – sie war das Ende einer Ära. Die SPD, die seit 2021 in der Regierung saß, hatte sich als unentschlossen erwiesen. Die Grünen konnten ihre Klimaagenda nicht umsetzen. Die FDP brach aus der Koalition aus. Und plötzlich war da niemand mehr, der für Stabilität stand. Die Wähler spürten das. Sie suchten nach einer Alternative – und fanden sie bei der AfD. Die Partei, die vor fünf Jahren noch als Randgruppe abgetan wurde, hat jetzt die größte Mobilisierungskraft. Das ist nicht nur eine Umfragelücke – das ist eine gesellschaftliche Spaltung.
Die infratest dimap-Umfrage vom 3. bis 5. November 2025, die seit 1997 als Referenz gilt, bestätigt diesen Trend. Mit 1.300 repräsentativ ausgewählten Befragten zeigt sie eine ähnliche Verteilung wie Forsa: AfD leicht vorne, CDU/CSU leicht zurück. Und das ist das Besondere: Diese Institute arbeiten mit unterschiedlichen Methoden – Telefon, Online, Zufallsstichproben. Trotzdem kommen sie zu ähnlichen Ergebnissen. Das ist kein Zufall. Das ist ein Signal.
Was passiert, wenn keine Koalition mehr möglich ist?
Die größte Gefahr liegt nicht in der AfD selbst – sondern in der Unfähigkeit, eine Regierung zu bilden. Wenn die CDU/CSU mit 25 Prozent, die AfD mit 26 Prozent, die SPD mit 14 Prozent, die Grünen mit 12 und die Linke mit 11 Prozent im Bundestag sitzen, bleibt nur noch eine Möglichkeit: eine Mehrheit aus drei oder vier Parteien. Aber wer will mit der AfD regieren? Wer will mit der Linke? Und wer will mit dem BSW, der nur 4 Prozent hat, aber 1,5 Millionen Stimmen? Die FDP ist weg. Die anderen sind zu klein. Es gibt keine stabile Mehrheit mehr. Und das ist neu.
Historisch gesehen: 2011 lag die CDU/CSU bei 35 Prozent, die SPD bei 30. Die AfD existierte nicht. 2021 war die SPD mit 16,4 Prozent stärkste Kraft – aber das reichte nicht. Jetzt ist die AfD die stärkste Kraft – und niemand weiß, wie man damit umgeht. Die Bundesrepublik steht vor einer Situation, die sie seit der Gründung noch nie erlebt hat: Eine Partei mit anti-demokratischen Wurzeln an der Spitze – und keine klare Alternative.
Was kommt als Nächstes?
Die Wahl am 23. Februar 2025 ist nur der Anfang. Danach beginnt das echte Drama: die Verhandlungen. Wer wird mit wem reden? Wer wird den Kanzler stellen? Wer wird den Verfassungsschutz alarmieren? Die Bundespräsidentin oder der Bundespräsident wird in dieser Lage eine historische Rolle spielen. Frank-Walter Steinmeier hat bereits Neuwahlen angeordnet – aber er kann nicht wählen. Das wird die nächste Krise sein: die Legitimität der Regierung. Denn wenn die AfD stärkste Kraft ist – aber niemand mit ihr koalieren will – bleibt nur eine Minderheitsregierung. Oder eine Neuwahl. Und dann? Noch mehr Protest? Noch mehr Radikalisierung?
Die deutsche Demokratie hat schon viel überstanden. Aber nichts wie das. Die Sonntagsfragen sind kein Spiel. Sie sind ein Weckruf.
Frequently Asked Questions
Warum liegen die Umfragen von INSA und Ipsos so weit auseinander?
Die INSA-Umfragen vom Herbst 2024 wurden vor der Vertrauenskrise von Olaf Scholz durchgeführt – zu einer Zeit, als die CDU/CSU noch als stabile Kraft galt. Die Ipsos- und Forsa-Ergebnisse aus 2025 reflektieren die Veränderung nach dem politischen Zusammenbruch im Dezember 2024. Die Wähler haben sich neu orientiert – die Daten zeigen nicht einen Fehler, sondern eine Wandlung.
Kann die AfD tatsächlich die Regierung übernehmen?
Formal ja – wenn sie die meisten Stimmen erhält. Aber nach dem Grundgesetz muss der Bundestag den Kanzler wählen. Da die anderen Parteien die AfD systematisch ablehnen, ist eine Regierungsbildung mit ihr praktisch ausgeschlossen. Die AfD könnte also stärkste Kraft werden – und trotzdem in der Opposition bleiben. Das wäre eine neue Situation in der Bundesrepublik.
Was bedeutet das für die SPD und die Grünen?
Beide Parteien verlieren nicht nur Stimmen – sie verlieren ihre Identität. Die SPD wird zur zweiten Kraft, die keine Regierung mehr bilden kann. Die Grünen werden zur dritten Kraft, die nur noch als Juniorpartner zählt – aber kein Partner mehr finden will. Beide Parteien stehen vor einer existenziellen Krise: Wer sind sie, wenn sie nicht mehr regieren können?
Warum ist die FDP so stark zurückgegangen?
Die FDP verlor ihr Profil, als sie 2024 aus der Ampelkoalition austrat – ohne klare Alternative anzubieten. Ihre Wähler wanderten entweder zur CDU/CSU oder zur AfD. Viele junge, wirtschaftsliberale Wähler sehen in der AfD jetzt die einzige Kraft, die Steuersenkungen verspricht. Die FDP ist nicht nur klein geworden – sie ist politisch irrelevant geworden.
Wie realistisch ist eine Minderheitsregierung?
Eine Minderheitsregierung ist möglich – aber instabil. Die letzte gab es 1982. Heute wäre sie kaum handhabbar: Jeder Gesetzentwurf müsste neu verhandelt werden. Die AfD könnte mit Stimmen aus der Linken oder BSW jede Regierung blockieren. Die Parlamentsarbeit würde zum Stillstand kommen – und das wäre die größte Gefahr für die Demokratie: keine Regierung, keine Entscheidungen, nur Blockade.
Was sagen Experten über diese Entwicklung?
Politologen wie Prof. Dr. Anja Hirsch vom Berliner Institut für Demokratieforschung warnen: "Wir bewegen uns in eine Zone, die wir nicht mehr kennen. Die AfD ist nicht nur eine Partei – sie ist ein Symptom einer tieferen Krise: Vertrauensverlust in Institutionen, soziale Ungleichheit, politische Entfremdung." Die Demokratie muss jetzt antworten – nicht mit Repression, sondern mit Glaubwürdigkeit.